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Akademisches Humankapital in Europa zwischen 1200 und 1793

Kann man messen, wie viel „Wissen“ eine Gesellschaft in der Vormoderne besaß? Und wenn ja: Trägt dieses Wissen dazu bei, dass manche Regionen aufsteigen und andere zurückfallen? Genau diese Fragen untersuchen Matthew Curtis, David de la Croix, Filippo Manfredini und Mara Vitale in ihrem LIDAM Discussion Paper 2025/12 . Methodischer Ansatz Die Methode ist ebenso originell wie clever: Statt spärlicher Lohnreihen oder eingeschränkter Einschreibungslisten nutzen die Autoren bibliographische Datenbanken (VIAF) und Wikipeadia-Einträge, um die „Sichtbarkeit“ einzelner Gelehrter zu erfassen. Aus neun Variablen, z. B. Anzahl der Publikationen, Vielfalt der Verlage oder Länge des Wikipedia-Artikels, wird ein Human Capital Index (HCI) konstruiert. Mathematisch geschieht das per Principal Component Analysis, sodass aus vielen Indikatoren ein Gesamtwert entsteht. Durch eine besondere Transformation werden „Superstars“ wie Erasmus oder Newton abgefedert, damit sie den Rest nicht domi...

Akademisches Humankapital in Europa zwischen 1200 und 1793

Kann man messen, wie viel „Wissen“ eine Gesellschaft in der Vormoderne besaß? Und wenn ja: Trägt dieses Wissen dazu bei, dass manche Regionen aufsteigen und andere zurückfallen? Genau diese Fragen untersuchen Matthew Curtis, David de la Croix, Filippo Manfredini und Mara Vitale in ihrem LIDAM Discussion Paper 2025/12.

Methodischer Ansatz

Die Methode ist ebenso originell wie clever: Statt spärlicher Lohnreihen oder eingeschränkter Einschreibungslisten nutzen die Autoren bibliographische Datenbanken (VIAF) und Wikipeadia-Einträge, um die „Sichtbarkeit“ einzelner Gelehrter zu erfassen. Aus neun Variablen, z. B. Anzahl der Publikationen, Vielfalt der Verlage oder Länge des Wikipedia-Artikels, wird ein Human Capital Index (HCI) konstruiert. Mathematisch geschieht das per Principal Component Analysis, sodass aus vielen Indikatoren ein Gesamtwert entsteht. Durch eine besondere Transformation werden „Superstars“ wie Erasmus oder Newton abgefedert, damit sie den Rest nicht dominieren.

Das Ergebnis: Für jeden Professor und Akademiemitglied zwischen 1200 und 1793 liegt ein individueller HCI-Wert vor. Aggregiert über Universitäten, Länder oder Regionen entsteht eine Zeitreihe, die erstmals jährlich das „akademische Humankapital“ Europas sichtbar macht.

Was zeigt die Landkarte des Wissens?

Die Ergebnisse sind faszinierend und fügen sich erstaunlich gut in die ökonomische Mainstream-Erzählung ein:

  • Little Divergence: Ab 1500 ziehen Nordwesteuropa und die protestantischen Gebiete davon. England, die Niederlande und später Schottland zeigen steigende HCI-Intensitäten, während Italien oder Spanien stagnieren. Das bestätigt die These, dass nicht nur Institutionen und Handel, sondern auch Humankapital zur europäischen Divergenz beigetragen haben.
  • Schocks und Resilienz: Nach der Pest 1348 überleben die Bologna-Modelle (Rechts- und Medizin-Unis) besser als die Pariser Theologiezentren. Es ist ökonomisch plausibel, denn Recht und Medizin hatten direkten Nachfrageschub. Im Dreißigjährigen Krieg brechen alle ein, aber evangelische Regionen erholen sich schneller.
  • Universitäten und Akademien: Ab 1500 entstehen Akademien, stärker forschungsorientiert. Ihre Mitglieder haben im Schnitt doppelt so hohe HCI-Werte wie Uni-Professoren. Entscheidend: Akademien ersetzen die Universitäten nicht, sondern befeuern sie – wo die eine Institution wächst, profitiert die andere mit.
  • Konfessionelle Unterschiede: Ab 1500 wachsen die evangelischen Regionen stärker. Sie gründen mehr Unis, ziehen größere Standorte hoch und schaffen damit Skaleneffekte. Es ist ein Muster, das stark an Wettbewerbspolitik erinnert.
  • Schottland im 18. Jahrhundert: Mit Edinburgh und der Royal Society of Edinburgh tritt Schottland spät, aber mit Macht in die erste Reihe des europäischen Wissens.

Warum ist das wichtig für Ökonom:innen?

Für uns Finanzökonomen sind diese Befunde mehr als nur Historie. Sie illustrieren zentrale Wachstumsmechanismen der Theorie:

Erstens: Upper-tail human capital, d.h. die Spitze der Wissenselite, wirkt wie ein Treiber totaler Faktorproduktivität. Genau das beschreiben Lucas und Romer in ihren Modellen: Ideen verbreiten sich, schaffen Spillovers und heben das Produktionsniveau.

Zweitens: Resilienz hängt von sektoraler Spezialisierung ab. Bologna-Universitäten überstehen die Pest besser, weil ihre Outputs (Recht, Medizin) unmittelbar ökonomisch verwertbar waren. Ein klassisches Beispiel für elastische Nachfrage nach bestimmten Wissensarten.

Drittens: Vielfalt der Institutionen wirkt wie Diversifikation im Portfolio. Universitäten liefern „Beta“, die breite Ausbildung, und Akademien liefern „Alpha“, neue Ideen und Spitzenforschung. Zusammen entsteht ein robusteres, produktiveres Wissenssystem, ganz ähnlich wie bei Portfolios: Monokultur ist riskant, Mischung schafft Resilienz.

Und viertens: Wettbewerb zwischen Regionen und Konfessionen fördert Skaleneffekte. Wo Regierungen nicht alles zentral steuern, entstehen dynamische Standorte, die Innovation anziehen. Das lässt sich direkt in die heutige Diskussion um Hochschulpolitik und Forschungsförderung übersetzen.

Fazit

Das Paper zeigt, wie man mit kluger Methodik auch für Jahrhunderte vor der Industrialisierung robuste Humankapitalmaße konstruieren kann. Die Botschaft: Wissen und besonders die Spitze der Wissenselite war ein entscheidender Faktor für die „Little Divergence“ Europas. Für heutige Politik und Ökonomie heißt das: Investitionen in upper-tail human capital zahlen sich aus; damals wie heute.


Quelle dieser Besprechung: Curtis, M., de la Croix, D., Manfredini, F., & Vitale, M. (2025). Academic Human Capital in European Countries and Regions, 1200–1793. LIDAM Discussion Paper IRES 2025/12.

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