Nach meinem Vortrag im Haus der Wissenschaften über den Umgang mit Fehlern mit Entscheidung bei der Kapitalanlage hatte ich eine anregende Diskussion mit den Teilnehmer*innen. Eine Frage hat mich allerdings unvorbereitet getroffen, über die ich im Anschluss länger nachgedacht habe. Die Frage war: „Wozu gibt es eigentlich Wirtschaftswissenschaften“? Darum geht es also heute: Was ist also der Mehrwert der Ökonomie?
Ich stelle mir die Ökonomie als eine Denkschule vor. Das Ziel der Denkschule ist es, die Wirtschaftstransaktionen zwischen den Menschen in einer Ökonomie modellhaft zu beschreiben. Warum entscheidet ein Mensch eine Schokolade zu kaufen? Wird durch die Schokolade ihr Nutzen gesteigert? Ist es wirklich nur das Geld oder sind es (auch) andere Gründe, die uns motivieren? Und was passiert, wenn sehr viele Menschen untereinander handeln und dadurch ein Markt entsteht?
Warum schreibe ich, Ökonomie sei eine Denkschule? Im Unterschied zu Physik entdecken wir Ökonomen keine allgemein gültigen Naturgesetzte. Wir können nur Zusammenhänge identifizieren [wie diese empirisch identifiziert und validiert werden, ist ein anderes Thema]. Wir fragen uns beispielsweise, ob durch Bildung Menschen mehr Einkommen haben werden. In Ökonomen-Sprech heisst es, die Menschen bilden sich, um eine Bildungsrendite zu bekommen. Mit der Bildungsrendite ist gemeint, dass ein Mensch mit einer (Aus-)Bildung einen höheren Nutzen (z.B. ein höheres Einkommen) als der gleiche Mensch ohne (Aus-)Bildung hat.
Die Zusammenhänge, die wir empirisch identifizieren, geben uns Hinweise, wie die Anreizsysteme unter gegebenen Annahmen in einer Marktwirtschaft aussehen sollten, um gewünschte Ziele zu erreichen. Über Anreizsysteme werde ich in einem anderen Beitrag mehr schreiben. Jetzt ist der Hinweis ‚unter den gegebenen Annahmen‘ wichtig. Das bedeutet für uns, dass Ökonomen sog. bedingte Erwartungswerte und darauf basiert bedingte Anreizsysteme formulieren. Die Annahmen können sich als richtig, teilweise richtig oder falsch erweisen. Aber unter den Annahmen gebildete Erwartung ist in sich widerspruchsfrei.
Heute werde ich über widerspruchsfreies Argumentieren aus der ökonomischen Sichtweise schreiben, weil wir Ökonomen damit wirtschaftspolitische Argumente aufdecken, die sich widersprechen. Dazu nutze ich zwei Beispiele: 1. Argumente für und wider den Mindestlohn und 2. Argumente für und wider den Lohnkostenzuschuss.
Aus der ökonomischen Perspektive betrachtet, gehen die Befürworterinnen von Mindestlohn von preisunelastischer Nachfrage nach Arbeitskräften (in Mengen) aus. Unternehmen werden trotz des höheren Stundenlohnes die gleiche Anzahl der Menschen einstellen, die höheren Kosten an den Konsumenten weitergeben und die Arbeiter*innen/Angestellte bekommen den gesamten Extranutzen durch den Mindeslohn. Die Gegnerinnen gehen von einer preiselastischer Nachfrage aus. Der Absatz der Produkte erhöht sich nicht (oder nicht sofort), daher stellen Unternehmen weniger Menschen ein oder lassen weniger Stunden arbeiten, um die Gesamtkosten der Arbeit konstant zu halten. Einige werden entlassen, andere gar nicht eingestellt und nur wenige bekommen höheren Stundenlohn.
Wenn wir uns den Lohnkostenzuschuss seitens einer staatlichen Arbeitsagentur anschauen, kehren sich die Zusammenhänge jedoch um. Falls die Nachfrage unelastisch ist, werden die Unternehmen die gleiche Anzahl von Personen einstellen und den gleichen Stundenlohn wie zuvor bezahlen, aber ihr Anteil am Stundenlohn wird durch den Lohnkostenzuschuss geringer. Folglich nutzen die Unternehmen den Lohnkostenzuschuss, um ihre Personalkosten zu senken. Falls die Nachfrage dagegen elastisch ist, dann werden die Menschen auch den gleichen Stundenlohn bekommen und die Unternehmen bezahlen nur einen Teil davon. Aber die Unternehmen werden mehr Menschen einstellen, weil der Stundenlohn aus Unternehmenssicht geringer geworden ist, sie mit dem gleichen Personalaufwand mehr Personal einstellen und mehr Produkte/Dienstleistungen erstellen können.
Aus ökonomischer Perspektive betrachtet, konsistent und widerspruchsfrei argumentiert, können wir entweder gegen Mindestlohn und für Lohnkostenzuschuss sein oder für Mindestlohn und gegen Lohnkostenzuschuss sein. Beides Mal dafür oder dagegen sein, ist mit den ökonomischen Denkschulen nicht vereinbar. Denn: entweder ist die Nachfrage nach Arbeit elastisch oder sie ist unelastisch. Und das ist eine Frage, die sich empirisch lösen lässt.
Wichtig: Diese sehr vereinfachende Argumentation ist keine Diskussion über Mindestlohn oder Lohnkostenzuschuss. Dafür ist sie zu vereinfachend. Die Nachfrage nach Arbeit hängt von vielen weiteren Faktoren ab, u.a. vom Preis der Produkte, die hergestellt werden, vom technologischem Fortschritt, von der Substituierbarkeit etc.
Die vereinfachende Argumentation soll lediglich aufzeigen, was ich mit der Denkschule meine. Wenn ich konsistent argumentieren und einigermaßen die ökonomischen Erkenntnisse aus der empirischen Forschung berücksichtigen will, kann ich nicht gleichzeitig für Mindestlohn UND für Lohnkostenzuschuss sein, weil sich die Annahmen beider Massnahmen ökonomisch schlicht widersprechen. Oder Sie müssen glauben, Unternehmen und die Arbeitnehmer werden ganz anders vorgehen, wenn es einen Mindestlohn gibt als wenn ein Lohnkostenzuschuss gewährt wird. Natürlich wie üblich, unter ceteries paribus Bedingungen, hier sehr vereinfachend und nur aus ökonomischer Perspektive argumentiert. Es kann selbstverständlich mehr Gründe für beide Massnahmen geben, z.B. Sozialpolitik.
Die größten messbaren Erfolge der Ökonomie sind in der anreizbasierter Gestaltung von Mechanismen. Zu den Mechanismen zähle ich Auktionen (z.B. Ebay, Google Adwords, Verkauf von Telekommunikationsfrequenzen), Funktionsweisen von speziellen Märkten (z.B. Finanzmärkte), Ausgestaltung von Verträgen, Lösung von Informationsasymmetrien etc. Das sind vor allem solche Systeme, bei den die Gestalterinnen die Mechanismen selbst so gestalten können, wie sie in der Theorie angenommen werden. Weniger erfolgreich ist die Ökonomie vor allem bei den unbedingten Prognosen von Wirtschaftsaktivitäten; also die Systeme, bei den die Mechanismen nicht kontrolliert werden können oder gänzlich unbekannt sind. Leider messen die meisten Nicht-Ökonomen vor allem an den unbedingten Prognosen den Erfolg von ökonomischen Theorien.
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